Preisträger:innen der 47. Duisburger Filmwoche


3sat-Dokumentarfilmpreis

Der mit 6.000 Euro von den vier Partnern des Gemeinschaftsprogramms ZDF, ORF, SRG und ARD dotierte 3sat-Dokumentarfilmpreis, überreicht durch Natalie Müller-Elmau, Koordinatorin 3sat, geht an

Einzeltäter Teil 1-3
von Julian Vogel | DE 2023 | 85 Min., 68 Min., 86 Min.

Einzeltaeter Teil 3 Hanau Still 02
Begründung der Jury:

Das Protokoll eines Schmerzes, das Protokoll eines offiziellen Versagens, wie Worte finden, wie Bilder? Bei einem Anschlag 2016 in München sterben neun Menschen. Die Rede ist vom Amoklauf eines Einzelnen. Politik und Medien zementieren eine Kultur des Erinnerns, die den klar rassistischen Hintergrund ausblendet und die Hinterbliebenen mit ihrer Trauer und Wut alleine zurücklässt. Erst nach den rechtsextremen Anschlägen 2019 in Halle und 2020 in Hanau wird das Narrativ auch von offizieller Seite revidiert. Um Jahre zu spät.

In einer Trilogie gibt der Regisseur Julian Vogel den Opfern und ihren Angehörigen Raum, begleitet letztere in ihre aus den Fugen geratene Leben, aber vor allem bei jenem Kampf um Aufarbeitung, der eigentlich von anderen erledigt werden müsste. Schwenks über deutschen Alltag konfrontieren ihre erlebte Gewalt und Ungerechtigkeit mit einer Normalität, die um jeden Preis bewahrt werden soll.

Vogel sucht dabei eine Form, die sich gängigen Fernseh – auch Kinoformaten – ein Stück weit widersetzt und damit auch als Plädoyer für ein anderes, ein politisch bewusstes dokumentarisches Arbeiten gelesen werden muss. Er arbeitet ergebnisoffen, nimmt sich Zeit. Dokumentarische und essayistische Szenen setzt er in Wechsel, und damit Emotionalität und Sachlichkeit. Die Montage erlaubt Nähe und gleichzeitig analytische Distanz.

In aller Ambivalenz, die mit jeder filmischen Repräsentation von Trauerarbeit einhergeht, weitet Vogel kontinuierlich die Perspektiven. So stehen alle drei Teile – in Fokus, Methodik und Dramaturgie – für sich, in ihrer 239minütigen Zusammenschau aber zeigen sich Verbindungen, schmerzhafte Leerstellen, frappierendes, systemisches Versagen. Ein Kampf um Haltung, Aufarbeitung und Sichtbarkeit, der sich nun auch in Hauptabend-Sendezeiten der Fernsehanstalten übersetzen sollte.

11. November 2023, die Jury: Britt Beyer, Laura Coppens, Sebastian Höglinger

 

ARTE-Dokumentarfilmpreis 

Der mit 6.OOO Euro dotierte ARTE-Dokumentarfilmpreis, überreicht durch Jean-Christoph Caron, Redaktionsleiter „Aktuelles“ bei ZDF-ARTE, geht an
 
Anqa
von Helin Çelik | AT, ES 2023 |91 Min.

Anqa Still 01
Begründung der Jury:

Der Film erzählt sich wie ein Mosaik. Stück für Stück erschließt sich eine Situation, die ganz buchstäblich verkörpert wird. Einrichtung, Farbe, Räume, alltägliche Verrichtungen erscheinen aus einem übermenschlichen großen Ganzen heraus vergrößert zu sein. Visuell balanciert der Film dadurch eine notwendige Abstraktion und Distanz.

Denn die drei Frauen, die allmählich aus den Details hervortreten, haben ein Ausmaß an Gewalt erfahren, über das der Film nicht informieren möchte. Behutsam und kompetent richtet die Filmemacherin Helin Çelik ihre Fragen an ihren Protagonistinnen aus. Es geht um sie.

Intensiv erlebbar ist das Ringen um Worte und innere Bilder. Berührung und Berührtsein. Die übermächtige Erzählung der Traumata werden – ohne sich zu offenbaren – spürbar umgeschrieben. Ein Kraftakt.

Am Ende wird eine der Frauen erkennen und aussprechen: „Ich existiere!“

Lobende Erwähnung für

La Empresa
von André Siegers | DE 2023 | 94 Min.

Wenn Erzählungen sich überlagern, dann hilft es sie zu ordnen. Der Film, dem wir eine lobende Erwähnung aussprechen möchten, folgt dafür der Spur des Geldes. Das mexikanische Dorf El Alberto, an der Grenze zu den USA gelegen, hat neben der Produktion von handgehäkelten Peeling-Handschuhen noch ein weiteres Produkt für den Weltmarkt entwickelt – die „Caminata Nocturna“.

Wöchentlich – und vor Ostern mehrfach – führt die Dorfgemeinschaft die grausamen Stationen der Grenzüberquerungen als Laienspiel auf – und ist damit bekannt geworden. Als ein deutsches Filmteam sich zu dieser Attraktion exklusiven Zugang einkauft, beginnen sich die Erzählungen zu überschneiden.

Mit lakonischer Demut und inhaltlicher Kompetenz kümmern sich beide Vertragspartner um ihr jeweiliges Produkt. Eine fein gebaute Verwirrung.

11. November 2023, die Jury: Enoka Ayemba, Christiane Büchner, Stefanie Gaus


Preis der Stadt Duisburg 

Der mit 5.OOO Euro dotierte Preis der Stadt Duisburg für kurzen und mittellangen Dokumentarfilm, überreicht durch Astrid Neese, Beigeordnete für Bildung, Arbeit und Soziales der Stadt Duisburg geht an

Patterns Against Workers 
von Olena Newkryta | AT 2023 | 34 Min.

Patterns Against Workers Still 01Begründung der Jury:

Arbeiterinnen, die auf die Sekunde genau wissen, wie lange sie auf ihren ergonomisch eingerichteten Arbeitsplätzen zum Nähen einer Decke brauchen. Ein bloß von Händen repräsentierter Körper, der sich auf einer solchen Decke mittels schwarzem Bildschirm in den insomnischen Zwischenraum träumt. Hier werden von der linearen Zeit losgelöste visuelle und gedankliche Verknüpfungen zwischen präkeramischer Vorgeschichte, den Erfindungen von Webstuhl, Computerschaltplatte, ausbeuterischer Landschaftsnutzung und dem Aufbau einer Fabrik gezogen, die auch einem mit Schmerztabletten gefüllten Verkaufsautomaten ein Stück des knapp bemessenen Platzes zugesteht.

Mit konterintuitiven filmischen Techniken und einer Voice-over Stimme irgendwo zwischen Meditationsanleitung und Innerem Monolog einer Schlaflosen, führt uns Olena Newkryta mit „Patterns Against Workers“ auf eine Ebene, in der Zusammenhänge verständlich gemacht werden, die in einer klassischen, auf Akkumulation basierenden Wissensvermittlung kaum erreichbar wären. Auf diese Weise erschließt sich etwa der direkte Weg von den maschinell lesbaren Webmustern des Textilkapitalismus im 19. Jahrhundert zu den unterdrückenden, lebensfeindlichen aber größ tenteils unbewussten Anweisungsmustern der Gegenwart. Dem Umstand, dass dieser Weg natürlich nicht geradeaus verlaufen kann, trägt der Film durch meditative, assoziative und auch haptische Vorgehensweisen Rechnung, welche die Filmerfahrung zu einer intellektuellen wie auch dezidiert körperlichen Erfahrung machen. Ungewohnt, teilweise unheimlich aber nie unangenehm.

Wenn all dies paradox klingt, dann weil sich gewisse Muster nur auf eine Weise erkennen lassen, die genau diese Muster durchbricht. Der Filmessay verbindet die gänzlich unterschiedlichen Texturen von Handybildschirmen und gewebten Produkten auf eine taktil beinahe spürbare Weise. Dass sich all dies auf einem weiteren, ursprünglich mal gewebten Oberfläche, nämlich der Kinoleinwand abspielt, ist auf poetische Weise folgerichtig.

In einer gleichzeitig beunruhigenden und optimistischen Coda zeigt die Filmemacherin einerseits, wie sich die immer effizienteren Codes oder Patterns der Industrie längst in unsere Körper eingeschrieben haben, aber auch, dass diese Körper immer noch fähig sind, diese Codes auf eine unproduktive aber gewinnbringende Weise umzudeuten und zu etwas Schönem zu formen. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

Lobende Erwähnung für 

Xabûr von Nafis Fathollahzadeh | DE,IR 2023 | 30 Min.  

Begründung der Jury:  

„Xabûr“ von Nafis Fathollahzadeh gibt nicht nur einer Region, sondern ihrer Vergangenheit und ihrer Natur, ihren Göttern und ihren Vertriebenen die Sprache zurück, die ihnen geraubt wurde. Ein formal herausforderndes Denkmal des Widerstands gegen zu selten hinterfragte koloniale Kontinuitäten im besetzten Kurdistan.

11. November 2023, die Jury: Özge Inan, Lukas Marxt, Dominic Schmid

 

„Carte blanche“ Nachwuchspreis des Landes NRW

Der mit 5.OOO Euro dotierte „Carte blanche“ Nachwuchspreis des Landes NRW, geht an

Operation Namibia
von Martin Paret | DE 2023 | 93 Min

Operation Namibia Still 01
 Begründung der Jury:

Beinahe wäre die Geschichte, die dieser Film erzählt, dem Vergessen anheimgefallen. Dabei könnten ihre Motive nicht gegenwärtiger sein. Radikale Solidarität, der Glaube an die eigene Wirkmächtigkeit im Angesicht schreiender Ungerechtigkeit und die Überzeugung, dass das geschriebene Wort diese Welt verändern kann: Auf der Golden Harvest wird all das auf eine Probe gestellt, die letztlich nicht zu schaffen ist. Die Operation Namibia, mit der 6.000 verbotene Bücher in das südafrikanisch besetzte Land verschifft werden sollen, scheitert, weil sie scheitern muss. Martin Paret verheimlicht nichts und verschont niemanden. Mit minimalen Mitteln erzeugt er einen unerbittlich gewaltigen Sog, ohne diesem Sog jemals die Menschlichkeit seiner Figuren zu opfern. Im Briefwechsel über Kontinente und Ozeane hinweg öffnet sich uns ein Kreis junger Menschen, auf Fotos lächeln sie uns entgegen. Zusammengedrängt in der erzwungenen Intimität des Segelbootes machen sie uns zu Eingeweihten. Ebenso behutsam greifen Narration, Bebilderung und Geräuschkulisse ineinander und erwecken die Fotografien zum Leben.
Die Hindernisse, die das Ziel der Mission in immer weitere Ferne rücken, sind mal technisch-materielle und mal zwischenmenschliche, mal gesundheitliche und mal finanzielle. Die Multiperspektivität der brieflichen Erzählweise lässt keinen Raum für singuläre Ursachen. Schuld haben gleichzeitig alle und keiner. Das Geradeaus, als das sich die Gruppe ihre Reise am Anfang ausgemalt hat, gab es nie.
Es ist dem geschickten Arrangement der Quellen zu verdanken, dass Operation Namibia trotzdem mehr ist als eine Geschichte der zerplatzenden Illusionen. Der Film hinterlässt bestürzt, aber nicht resigniert, ergriffen, aber nicht ermattet. Er fördert die Geschichte zutage wie verbotene Bücher aus dem Bauch eines Schiffs. Indem er auf ihre Relevanz besteht, schreibt er sie gleichsam fort und gibt ihr fünf Jahrzehnte später den Raum, den ihre Urheber ihr angedacht hatten, als sie sich auf den Weg machten, mit Büchern die Menschheit zu befreien.

11. November 2023, die Jury: Özge Inan, Lukas Marxt, Dominic Schmid

 

Publikumspreis der Rheinischen Post

Der mit 1.000 Euro dotierte Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film des Festivals, überreicht durch Peter Klucken, geht an

Vista Mare
von Julia Gutweniger und Florian Kofler | AT, IT 2023 | 80 Min.

Vista Mare Still 01

11. November 2023, die Jury: Jan Galka, Kurt Große-Gehling, Ines Köhler, Petra Müller, Marianne Neumann, Torben Nitsche und Dagmar Ohlwein

 
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(Von links nach rechts: Florian Kofler und Julia Gutweniger (Publikumspreis für VISTA MARE), André Siegers (Lobende Erwähnung ARTE-Dokumentarfilmpreis für LA EMPRESA), Festivalleitung Alexander Scholz, Şermin Güven (Lobende Erwähnung Preis der Stadt Duisburg für XABÛR), Olena Newkryta (Preis der Stadt für PATTERNS AGAINST WORKERS), Martin Parey ("Carte blanche" Nachwuchspreis für OPERATION NAMIBIA), Julian Vogel (3sat-Dokumentarfilmpreis für EINZELTÄTER TEIL 1-3) Foto: Maria Kotylevskaja)